27. Februar 2019

Routinierter Parlamentarier und grüner Überzeugungstäter

Zum 200. Mal der von Bernd Dassel im Oktober 2001 ins Leben gerufene und zur Leutkircher Institution gemachte "Talk im Bock" - 200 Mal mit der wunderbaren Jazz-Combo "Just Friends". Dem feierlichen Jubiläumsanlass würdig, besetzten an die 400 Besucher alle Stühle, dazu zahlreiche weitere Stehplätze in der randvollen Aula der Otl-Aicher-Realschule. Sie erlebten einen tollen Abend, den der prima moderierende Karl-Anton Maucher am Ende als "interessant, spannend und lehrreich" zusammenfasste. Die stattliche Saalspende von 2.436 Euro widmete Jubiläums-Gast Cem Özdemir je zur Hälfte den Versperkirchen in Ravensburg und Stuttgart. Vorwiegend in den Wintermonaten führen sie soziale Projekte zugunsten Armer und Bedürftiger durch.

Immer wieder aufbrandender Spontanapplaus belohnte den renommierten grünen Bundespolitiker aus Bad Urach für dessen markante, im Brustton tiefer Überzeugung geäußerten Aussagen. Zum Beispiel "gibt es bei uns hier in Deutschland keine oberste Zensurbehörde, Pressefreiheit ist im Wortschatz des Türkischen gar nicht vorhanden". Außerdem sei, auf den einst inhaftierten Deniz Yücel bezogen, "Journalismus kein Verbrechen". Sein leidenschaftlicher Appell an die türkische Führung, doch endlich auch die freizulassen, die keinen deutschen Pass haben, verursachte Gänsehaut, mitunter sogar auch feuchte Augen.

Breiten Raum nahm seine Auseinandersetzung mit der AfD ein. Dabei weiß er wohl zu differenzieren zwischen der Partei in ihren Anfängen mit Leuten wie Bernd Lucke oder Olaf Henkel, an denen er lediglich sonderbare Ansichten zu Europa bemängelt, und der heutigen AfD mit zahlreichen rechtsradikal und nationalistisch gesonnenen Köpfen in ihren Reihen. Besonders viel Applaus erntet er, als er von seiner persönlichen roten Linie spricht, die dann überschritten wird, wenn die scheußlichen nationalsozialistischen Verbrechen, in welcher Form auch immer, verharmlost würden. Von Moderator Maucher gefragt, ob er mit AfD-Leuten zu echtem Gedankenaustausch käme, sagt Özdemir: "Sie sind keine normalen demokratischen Kollegen für mich. Sie müssen zum Grundgesetz stehen - ohne jedes Wenn und Aber!" Niemand habe dieser Partei das Recht gegeben zu definieren, was echt deutsch sei und wer nicht.

Für Heiterkeit sorgen einige Anekdoten des Gastes, zum Beispiel die aus dem Deutschen Bundestag, in den er erstmals 1994 hineingewählt wurde. In unmittelbarer Nähe von Bundeskanzler Kohl hinter ihm als Schriftführer beschäftigt, erreichten ihn Anrufe, die wissen wollten: "Was macht denn der Türke da oben?" Oder: "Wie kommt der nur dahin?" Um eventuelle Missverständnisse auszuräumen: "Ich fliege nach Stuttgart, fahre mit der S-Bahn nach Bad Urach (Geburtsstadt) und dann bin ich daheim. Daheim in meiner schwäbischen Heimat". Und nachdrücklich wortgewaltig der Zusatz: "Die lasse ich mir nicht nehmen!"

Als "Sultan" Erdogan vergangenen September beim Empfang des Bundespräsidenten im Schloss Bellevue der rote Teppich ausgerollt wurde, demonstrierte Özdemir im Unterschied zu gar nicht teilnehmenden grünen Parteifreunden beim Defilee vor dem Staatsbankett Schneid und Courage. Ihm auch die Hand schüttelnd, las er dem autoritären Machthaber zwar nur kurzzeitig, aber dafür ganz gehörig die Leviten. Am Revers trug er einen Button mit der an das berühmte Schiller-Zitat aus "Don Carlos" angelehnten Aufschrift: "GEBEN SIE MEINUNGSFREIHEIT". Erdogan schon lange kennend, sagte er ihm ganz freimütig und direkt ins Gesicht: "Ich bedauere, dass von dem früheren Erdogan nichts mehr übrig ist".

Was seine politische Zukunft betrifft, hofft der breit schwäbelnde Özdemir darauf, vielleicht doch einmal einen Ministersessel besetzen zu können. Am liebsten den des Außenministers. Mit diebischer Freude: "Dann würde ich zur ersten Auslandsreise nach Ankara fliegen". Warum wohl? Um ihm wieder die Hand zu schütteln...