03. Oktober 2020

Geburtsfehler der Einheit

Altbundespräsident Joachim Gauck, der im März 2011 vor seiner Wahl zum Staatsoberhaupt bei Bernd Dassel zum TiB in der Festhalle war, wurde am gestrigen Vorabend zum 30. Tag der Deutschen Einheit von Marietta Slomka im Nachrichtenmagazin heute journal des ZDF interviewt. Slomka stellte den jetzt 80-jährigen Hanseaten, der 1940 in Rostock geboren wurde und die Geschichte der DDR komplett durchlebte, als denjenigen vor, dessen Leben in ganz besonderer Weise für den Prozess der deutschen Wiedervereinigung steht. Daher sei er wie kein anderer dafür prädestiniert, sich zur Entwicklung der Deutschen Einheit zu äußern. Über die vergangenen 30 Jahre der Einheit sagt er, es habe einfach ein unglaubliches Ausmaß an Wandel in den täglichen Dingen gegeben. Viele hätten sich Vollkommenheit ersehnt. Sie erlebten aber nicht nur Enttäuschung, aber die Realität.

 

Er bemängelt, dass es nicht diese menschliche Nähe gibt, die uns vielleicht erlaubt, noch mehr und tiefer zu begreifen, welches unglaubliche Ausmaß an Wandel sich in allen Bereichen vollzogen hat. Es sei eine völlig andere politische, gesellschaftliche und ökonomische Kultur, die den Unterschied zwischen Ost und West ausmacht. Slomka erinnerte Gauck an ein von ihm selbst geäußertes Wort, dass wir "vom Paradies geträumt haben, jedoch in NRW aufgewacht" seien. Dazu erklärte Gauck jetzt, dass Menschen dazu neigen würden, das, was sie ersehnen, als vollkommen darzustellen. Deshalb sei das Aufwachen in NRW nicht nur Enttäuschung, sondern Begegnung mit der Realität gewesen. Die "Wirklichkeit hat immer Pech", wenn Menschen sie mit ihren Träumen vergleichen. Man müsse halt begreifen: "Es ist schön, aber nicht vollkommen".

 

Von der TV-Moderatorin gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, mehr von der DDR zu übernehmen und statt des Beitritts der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes eine gemeinsame neue deutsche Verfassung zu schreiben, antwortet Gauck: "Ja, das hätte gerade den Menschen, die die Demokratiebewegung befeuert und geleitet haben, natürlich sehr gut gepasst. Mir auch!" Ansätze, eine eigene Verfassung zu entwickeln, habe es ja gegeben. Damit bejahte Joachim Gauck, dass der Beitritt nach Art. 23 GG ein "Geburtsfehler" (Slomka) der Deutschen Einheit ist.