03. November 2015

„Ätsch, selber schuld!“

Dass zum 169. "Talk im Bock" mit dem in Langenau bei Ulm lebenden Menschenrechtsaktivisten und Autor Urs M. Fiechtner, der angesichts der anhaltenden Krise um den ungebremsten Zustrom von Flüchtlingen brandaktuell und thematisch hochbrisant war, ganze 80 Besucher nur in den Bocksaal fanden, erscheint rätselhaft. Sie spendenden 424 Euro. Nach dem Willen des intelligenten und eloquenten Gastes soll mit dem Geld eine letzte Finanzierungslücke für einen "rollenden Infostand" geschlossen werden, der für Dörfer um Ulm und um Ulm herum vorgesehen ist, in denen größere Veranstaltungen nicht möglich sind.

Der im 1995 gegründeten Ulmer Behandlungszentrum für Folteropfer tätige Gast redete Tacheles: "Folter ist vollkommen sinnlos, da sie nur Antworten bringt, die der Folterer hören will, nicht aber die Informationen, die der Gefolterte hat. Sie ist reines Machtmittel zur Demütigung und psychischen Zerstörung von Menschen, da manchmal stundenlang gefoltert wird, ohne dass auch nur eine Frage gestellt wird". Tröstlich stimmte: "Auch der Täter ist für sein Leben geschädigt".

Obwohl 151 Staaten der Erde die UN-Antifolterkonvention unterzeichnet haben, wird in 131 Ländern Folter praktiziert. Erhebungen der Menschenrechts- und Gefangenenhilfsorganisation Amnesty International (AI), für die sich Fiechtner seit Anfang der 1970er Jahre engagiert, hätten in den letzten Jahren ergeben, dass es auch in Deutschland jährlich 100 bis 200 Fälle von Missbrauch polizeilicher Gewalt gegenüber Inhaftierten gäbe.

Im Ulmer Zentrum würden jährlich 120 bis 130 Patienten therapiert, die Erfolgsquote bei der Heilung von Folteropfern läge bei 75 Prozent. Die Geheilten seien überzeugt, wieder "normalisiert" zu sein, also wieder schlafen und ganz normal arbeiten zu können. Um das erreichen zu können, sei zuerst am allerwichtigsten, den Folteropfern das Gefühl von verlässlicher Sicherheit zu geben. Oft aber passiere das Gegenteil. So habe Fiechtner einen Asylbewerber zum ersten Anhörungstermin begleitet, dem dieser regelrecht entgegenfieberte bzw. -zitterte. Die Anhörung habe jedoch nicht stattgefunden. Stattdessen erhielt der Bewerber einen Vertagungsbescheid - auf September 2016! Das bedeutet langes Zittern, noch einmal ein ganzes Jahr lang in lähmender Unsicherheit. Ganz entscheidend komme es im Gespräch mit Folteropfern darauf an, zuhören zu können, den Betroffenen reden zu lassen, ihn auf keinen Fall irgendwie zu bedrängen. Manch ein Asylverfahren sei daran gescheitert, dass Folteropfer mitunter außerstande sind, über das, was ihnen widerfahren ist, überhaupt zu sprechen. 

Sich kein Blatt vor den Mund nehmend, brandmarkte der Menschenrechtsaktivist die Unfähigkeit deutscher Poltik: "Wir haben seit Jahren gewarnt, dass die jetzige Flüchtlingswelle kommen muss. Keiner hörte zu, jetzt ist sie da". Er spricht von politischem Versagen und gesteht, dass er sich persönlich manchmal sehr zusammenreißen müsse, um dem entsetzten Innenminister nicht ins Gesicht zu sagen: "Ätsch, selber schuld!"

Zum nächsten, dem 170. "Talk im Bock" erwartet Moderator Andreas Müller am 7. Dezember in der Mensa/Cubus den bekannten Kabarettisten und Musiker Hans Well, und zwar ganz alleine, ohne seine drei Wellbappn. Motto des Abends: "Von Haus aus wird gestritten. Aus der Großfamilie auf die Kleinkunstbühne".