12. Januar 2016

Nicht Zerrbild, auch nicht Idealbild, sondern: Realbild!

Obwohl das Sitzen zwischen den Stühlen gar nicht nach jedermanns Geschmack ist, hat sich der emeritierte Münchner Geschichtsprofessor, der an der Universität der Bundeswehr lehrte, über die Jahre so daran gewöhnt, dass er seinen üblichen "Sitzplatz" durchaus kommod empfindet. Im gestrigen 171. Talk saß Professor Michael Wolffsohn mit Moderator Andreas Müller natürlich auf einem der beiden Stühle auf dem Podium des Bocksaals, in dessen toller Atmosphäre er sich sichtlich pudelwohl fühlte. So zeigte er viel Humor mit einem kräftigen Schuss Selbstironie ("versuche, das bisschen Verstand, das ich habe, zusammen zu kratzen"), was beim zahlreichen Publikum im proppenvollen Saal viel heiteren Anklang fand.

Die stattliche Spendensumme von 1.130 Euro fließt natürlich in seine "Cheops-Pyramide", wie er die im nördlichen Berliner Stadtteil Gesundbrunnen liegende Gartenstadt Atlantic nennt. Es handelt sich um eine integrative Wohnanlage mit rund 500 Wohnungen, deren Modernisierung einen "dreimal zweistelligen Millionenbetrag" verschlungen hat. Wert legt der Gast auf die Feststellung, dass es Grundgedanke dieses Integrations- und Kulturprojekts ist, noch formbare Kinder zwischen vier und achtzehn Jahren deutscher, jüdischer und türkischer Herkunft interkulturell zu erziehen. So bleiben die verschiedenen Identitäten gewahrt. Multikulti hingegen lehnt er entschieden ab, weil die verschiedenen Kulturen bis zur Unkenntlichkeit zu einem "Einheitsbrei" verquirlt werden. Wichtiger Grundsatz der Erziehungsarbeit ist: nicht quatschen, sondern vorleben! Und: "Nicht gackern, sondern Eier legen!" Geht man selbst als Vorbild voraus, dann folgen einem die Menschen auch. Der Erfolg des preisgekrönten Projekts gibt ihm recht.

Wie in seinem 2015 erschienenen und viel beachteten neuen Buch "Zum Weltfrieden. Ein politischer Entwurf" auch, redete der oft polarisierende Publizist, der genauso jung bzw. alt wie sein Geburtsland Israel ist, auch in Leutkirch föderalen Strukturen das Wort. Er zeigt sich überzeugt, dass alle Menschen dieser Erde im Grunde nur eines wollen: Gut leben und sich selbst bestimmen. So sei es ein in Ost wie in West, von Putin über Obama bis zu Steinmeier erschreckend weit verbreiteter Denkfehler, ein Land wie Syrien stabilisieren zu wollen. "Was nicht zu stabilisieren ist, kann man nunmal nicht stabilisieren". In einem föderativen System, einer Mischung aus Bundesstaat und Staatenbund, jedoch, können die verschiedenen Volks- und Religionsgruppen ihre Geschicke in eigene Hände nehmen, sich weitgehend selbst verwalten. Weil das bislang nicht der Fall ist, seien die Leute unzufrieden, würden sich radikalisieren, auf Rache sinnen, in Terrorismus abgleiten oder Terroristen Unterschlupf bieten. Im schlimmsten Fall entsteht dann eine solche Terrorbande wie "IS".

Europa habe das föderative Modell bestens in seiner Geschichte vorgelebt. Das beweist zum Beispiel der Wandel im Verhältnis der beiden früheren Erzfeinde Frankreich und Deutschland eindrucksvoll nachhaltig. Bis heute verhindert die Politik einen Export in den Nahen und Mittleren Osten, weil sie unbedingt die bestehenden Staaten stärken zu müssen glaubt.

Die brandheiß aktuellen Geschehnisse in der Kölner Silvesternacht könnten laut Wolfssohn für Deutschland einen "historischen Wendepunkt" markieren. Bei den rund 1000 Randalierern vermutet er organisierte Strukturen, die ganz gezielt gegen unsere Strukturen gerichtet seien. Man wolle zeigen: "Wir diktieren hier die Spielregeln, nicht ihr!" Das kann und darf nicht sein, denn "Minderheit ist Minderheit". Das heiße nicht, dass Migranten sich voll bis zur Assimilation anpassen müssten. Die bestehenden Grundregeln allerdings, die müssten sie auf jeden Fall akzeptieren. Sonst würde die bestehende Leit- zu einer "Leidkultur" verkommen. Für uns bedeutet das: Nicht weg-, sondern genau hinschauen. So würden Zerrbilder gerade gerückt, Idealbildern der Boden entzogen. Die so tatsächlich gewonnenen Bilder seien Realbilder. Und auf die kommt es an!