27. November 2018

Plädoyer für freiheitlich-demokratische Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte

Schade, dass der letzte Talk im Bock (TiB) des Jahres 2018 nicht ganz zur 200. Veranstaltung in der 18-jährigen Geschichte der von Bernd Dassel geschaffenen Gesprächsreihe wurde. So war es TiB 199, der mit 180 Besuchern im Bocksaal restlos voll besetzt und im Foyer ebenso voll „bestanden“ ein Riesenpublikum wie schon lange nicht mehr in seinen Bann zog. Die Saalspende erbrachte stolze 1.481Euro, die Meşale Tolu (34) einer unabhängig arbeitenden Istanbuler Menschenrechtsorganisation zukommen lässt. Das dort ehrenamtlich tätige Personal bietet eine wertvolle Anlaufstelle für Inhaftierte und Verfolgte. Tolu begründet ihre Absicht damit, dass „Gerechtigkeit das Fundament des Rechtsstaats“ und in der Türkei deshalb unschätzbar wertvoll ist, weil dort „alles andere als Gerechtigkeit“, nämlich Willkürherrschaft und politische Justiz herrscht.

Oberbürgermeister Hans-Jörg Henle würdigte die jetzt 34-Jährige für ihr vorbildliches Engagementmit, das Publikum überschüttete die Neu-Ulmerin mit Riesenapplaus, der sich Herz erwärmend warmherzig und dankbar anfühlte. Zugleich verabschiedete der Rathauschef den zuletzt als Hauptmoderator tätigen Andreas Müller und wünschte ihm für seine arbeitsreiche berufliche Zukunft alles Gute.

Die 1984 geborene Journalistin und Übersetzerin kurdischer Abkunft fühlt sich weder als Türkin, erst recht nicht als Deutsch-Türkin, sondern aus tiefster Überzeugung schlicht und ergreifend als eine ganz normale Ulmerin. Grundsätzlich verwahre sie sich dagegen, Menschen in irgendwelche Schemata zu pressen. Obwohl ihr Schicksal seit rund zwei Jahren die Gemüter ähnlich stark bewegt und die politischen Beziehungen zwischen Berlin und Ankara belastet wie die Schicksale des „Welt“-Reporters Deniz Yücel und des Menschenrechtlers Peter Steudtner, ist die große Unterstützung, die ihr zuteil wurde, regional vor allem auf das südliche Württemberg fokussiert. Vieles, was gar nicht stimme, sei über sie geschrieben worden, kritisiert sie. Zum Beispiel dass sie ihren türkischen Ehemann Suat Corlu auf einer kurdischen Hochzeit kennengelernt habe.

Mit dem Vorwurf von Verbindungen zur linksextremen Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei MLKP, die in der Türkei als Terrororganisation gilt, wurde sie inhaftiert und musste – ihren kleinen 3-jährigen Sohn an der Seite – 7 Monate in U-Haft verbringen. Die Schilderung ihrer nächtlichen Festnahme am 30.4.2017 ist ein Alptraum. Nachdem ihr Mann 3 Wochen zuvor ins Gefängnis geworfen wurde, verbrachte sie einen „lockeren, entspannten Abend“. Zwischen 10 und 11 Uhr ging sie schlafen, wachte aber gegen 3 Uhr wegen lauter Poltergeräusche auf. Martialisch bewaffnete vermummte Gestalten eines Sondereinsatzkommandos drangen in die Wohnung ein, veranstalteten dreieinhalb Stunden lang Hausdurchsuchung. Wie in einem irrealen Actionfilm wurde sie gewaltsam zu Boden geworfen. Auch auf den verstörten kleinen Sohn richteten die Typen ihre Waffen. Außer ein paar Flyern fanden sie nichts Brauchbares. So hagelte es Bedrohungen und Beleidigungen. Vor allem emotionalisierend und psychischen Druck aufbauend, drohten sie damit, den kleinen Jungen einmal einer Spezialausbildung zuzuführen, um ihn zu befähigen, Terroristen zu bekämpfen.

Die Haftbedingungen für Meşale und ihren Sohn waren menschenverachtend unwürdig. Aber darüber zu jammern, dafür „hätte ich mich geschämt“ angesichts viel schlimmerer Geschichten von Haftgenossinnen, die im Gefängnis selbst Kinder zur Welt bringen mussten.

Vom scheidenden Moderator Müller gefragt, wie sie das alles bewältigen würde, ihre Auskunft: „Ich rede darüber, das ist meine Art zu bewältigen. Alle Welt soll wissen, wie es um die Zustände in diesem Land steht“. Sie habe natürlich viele Tage der Verzweiflung durchlebt, weil man keine Ahnung hatte, was einem passiert, „zumal mein Name mit dem von Yücel und anderen in der Presse erschien“.

Zu ganz großem Dank verpflichtet fühlt sie sich gegenüber anwesenden Prozessbeobachtern, wie zum Beispiel dem investigativen Journalisten und Schriftsteller Günter Wallraff. Weil er ihr „recht still im Hintergrund, aber voll solidarisch“ viel Beistand geleistet hat, habe sie ihn als echten Freund zu schätzen gelernt.

Aus dem Publikum gefragt, ob sie keine Angst habe, dass ihre Äußerungen ihr vor Gericht – am 10. Januar wird der Prozess fortgeführt – zum Nachteil gereichen könnten, verneint Tolu. Sie mache hier lediglich von ihrem Grundrecht freier Meinungsäußerungen Gebrauch. Vor Gericht habe sie ganz andere, härtere Sachen gesagt. Spontaner Beifall brandete auf, als sie den Wunsch äußert, die deutsche Politik solle der Türkei gegenüber weniger wirtschaftsorientiert, dafür umso  stärker menschenrechtsorientiert agieren.