27. Juli 2015

Wertlos wie verschüttetes Wasser

Bei erfrischend schönem Sommerwetter war der Bocksaal bei der 165. TiB-Ausgabe erfreulich gut gefüllt. 936 Euro Saalspende kommen einer chinesischen Organisation zugute, die sich der Versorgung von Kindern widmet, die vor Klöstern ausgesetzt wurden. Dass es sich meist um kleine Mädchen handelt, ist direkte Folge der unter Deng Xiaoping ab 1980 eingeführten Ein-Kind-Politik, mit der das explosive Wachstum der heute 1,35 Milliarden zählenden Bevölkerung gedeckelt werden sollte.

Die 27 Jahre junge deutsch-chinesische Journalistin und Buchautorin Xifan Yang, erst heute aus Shanghai nach München eingeflogen, nimmt sich kein Blatt vor den Mund, nennt die Dinge, wie sie nun einmal sind, unverblümt beim Namen. Von "verschüttetem Wasser", von "Entsorgung im Straßengraben" und vielen Zwangsabtreibungen spricht sie, weil weibliche Babys als wertlos angesehen werden. Sie würden später nur heiraten und wieder Kinder kriegen wollen, obwohl die Menschenmasse im einstigen Reich der Mitte größer ist als die Bevölkerung Nordamerikas, Europas und Russlands zusammen.

Die rigide Bevölkerungspolitik habe eine "demografische Schieflage" mit "sozialen Verwerfungen" dramatischen Ausmaßes bewirkt. 40 Millionen Frauen würden jetzt im Lande fehlen. Heiratswillige Chinesen reisen zum Beispiel auf Brautschau nach Hanoi. Vietnamesische Bräute nutzen ihre Chance auf eine viel bessere Zukunft. In der chinesischen Textilindustrie gibt es viel mehr Rechte und die Arbeitskraft verdient das Vier- bis Fünffache als in Kambodscha oder Myanmar.

Sozialen Sprengstoff allergrößten Ausmaßes, so Xifan, berge das 150 Millionen umfassende Riesenheer der Wanderarbeiter, die saisonal aus den zentralasiatischen Westprovinzen in die hypermodern aufstrebenden, dynamischen Wachstumsmetropolen an den östlichen Küsten strömen, um in gnadenloser wirtschaftlicher Ausbeutung ein erbärmliches Dasein fristen zu müssen. Dadurch würden 80 Millionen Kinder eigentlich ohne Eltern aufwachsen, die sie nur einmal im Jahr sehen. Die Folge sind "unglaubliche soziale Spannungen".

Wegen der im Land weit verbreiteten Korruption würde "bei der Umsetzung von Gesetzen auf den Stufen nach unten viel Geld versickern". Die Unzufriedenheit sei groß, weil man immer "schmieren" müsse. Ohne "Vitamin B" wie Beziehungen laufe nicht viel. Dennoch würde man sich mit den Zu- und Missständen arrangieren, wenn auch resignativ und in Gleichmut angepasst. Wegen des erreichten beachtlichen Wohlstands "haben wir nämlich etwas zu verlieren". 

Die, wie sie sich selbst nennt, "Deutsche mit chinesischem Migrationshintergrund" beantwortete die von Moderator Raimund Haser aus dem Publikum servierte Frage, ob sie wegen ihrer Offenheit beim Artikulieren von Missständen Angst vor Repressalien habe, eindeutig verneinend. Mit deutschem Pass gelte sie als Ausländerin. Als solche könne sie nur des Landes verwiesen werden.

Am 10. August talkt Raimund Haser vor dem Bock im Freien mit den Leutkircher Köpfen Julia Kneipp, Stefan Michaelis und Kevin Prinz über deren "Geschichten aus dem Gäu".